Blumenthal: Österreicher haben viel bessere Bahn als sie wissen

In Österreich werde „auf hohem Niveau über die Bahn gejammert“, meint Paul Blumenthal, der bei den ÖBB als Aufsichtsrat und Berater tätig ist.

 

Bericht Tiroler Tageszeitung vom 22. Mai 2011

Der Schweizer Paul Blumenthal, früherer Personenverkehrschef der Schweizer Bundesbahn (SBB) und nunmehr bei den ÖBB als Aufsichtsrat und Berater tätig, sieht die Österreichische Bundesbahn (ÖBB) im europäischen Vergleich gut aufgestellt.

 

„Die Österreicher haben eine viel bessere Bahn, als sie wissen“, meint er im Gespräch mit der APA.

In Österreich werde „auf hohem Niveau über die Bahn gejammert“, konzediert der Schweizer: „Es ist in jedem Land das Gleiche, man sieht immer nur das Schlechte.“

Die ÖBB befänden sich vom Image her derzeit in einer „Negativspirale“, auch die SBB habe diese Situation in den 90-er Jahren erlebt. Für den Schweizer ist die heute von österreichischen Bahn-Kritikern oft als Vorbild angepriesene SBB mit den ÖBB aber nur teilweise vergleichbar.

 

 

Foto: Marcel Manhart

 

In der Schweiz gebe es das „Goldene Dreieck“ zwischen den Städten Bern, Zürich und Basel, wo sich mehr als die Hälfte der Mobilität abspiele und die SBB Gewinne machen. Das „Goldene Dreieck“ finanziere den Rest des Schweizer Fernverkehrs mit. In Österreich hingegen gebe es nur die „Goldene Strecke“ zwischen Wien und Salzburg. Bei ähnlicher Bevölkerungszahl wie Österreich sei die Schweiz viel kleinräumiger, was für die Bahn natürlich Vorteile bringe.

Die Österreicher zahlen im internationalen Vergleich wenig fürs Bahnfahren, betont Blumenthal: Das Preisniveau im Personenverkehr liege in Österreich deutlich unter der Schweiz und Deutschland: Bei bereinigtem Preisvergleich zahlen Fahrgäste in Österreich 0,10 Franken (0,08 Euro) pro gefahrenen Kilometer, in der Schweiz 0,15 Franken und in Deutschland 0,20 Franken. „Da sieht man, wo die Deutsche Bahn Gewinne macht“, gibt Blumenthal zu bedenken. Im europäischen Vergleich seien die Italiener bei den Fahrpreisen noch billiger als die Österreicher, allerdings verfüge Italien über ein wesentlich weniger dichtes Bahnnetz.

Der Bedarf an einem engen Bahnnetz und schnellen Verbindungen werde weiter steigen, insbesondere im Güterverkehr, ist der Schweizer überzeugt. „Österreich steht in Europa absolut im Fokus.“ Das Transportvolumen in Europa werde weiter wachsen, Diskussionen um die Einschränkung von Infrastrukturvorhaben, etwa den Brennerbasistunnel einspurig zu bauen, hält Blumenthal daher nicht für sinnvoll. Der aus Ersparnisgründen weitgehend nur einspurig gebaute Lötschbergtunnel, der erst 2007 eröffnet wurde, sei heute schon voll und ein Nadelöhr im Schweizer Bahnnetz.

Die Möglichkeit einer Übernahme der ÖBB durch einen großen Player wie die Deutsche Bahn sieht Blumenthal zumindest im Moment nicht als reale Gefahr. Dass den ÖBB ein AUA- oder swissair-Schicksal drohe, die beide von der Deutschen Lufthansa übernommen wurden, sei aber auf längere Sicht nicht auszuschließen. Entscheidend sei, ob die Bahn wirtschaftlich tragfähig arbeiten könne. Dazu zählt der ÖBB-Aufsichtsrat auch eine starke Position in den Ostmärkten im Güterverkehr. „Wenn die ÖBB da wirtschaftlich tragfähig anbieten können, dann haben sie auch die Chance, im europäischen Konzentrationsprozess zu überleben.“ Ohne gesunde wirtschaftliche Basis sei die Chance auf Erhaltung einer österreichischen Bahn vorbei, mahnt er.

Auch in der Schweiz habe es eine Privatisierungsdebatte gegeben, die aber von einer Debatte über mehr Wettbewerb bei der Bahn abgelöst worden sei, erläutert Blumenthal. Sonst würde eine Privatisierung im Bahn-Bereich dazu führen, dass auf rentablen Strecken Privatbahnen fahren, auf den unrentablen Strecken bleibe dann die staatliche Bahn. „Die Privatisierung der Gewinne und Verstaatlichung der Verluste“ würde dazu führen, dass sich Staatsbahnen wie ÖBB und SBB auf die subventionierten Teile des Streckennetzes zurückziehen müssten. Blumenthal erinnert auch an die gescheiterte Bahn-Privatisierung in Großbritannien, wo bei der privatisierten Infrastruktur am Service gespart wurde und schwere Unfälle die Folge gewesen seien. Auf den Markteintritt der privaten Westbahn auf der Strecke Wien-Salzburg ist Blumenthal jedenfalls gespannt. Besonderes Augenmerk legt der Schweizer dabei auf die Rolle der französischen Staatsbahn SNCF, die ja laut Berichten bei Hans-Peter Haselsteiners Westbahn-Projekt mit einsteigen soll. „Wenn die SNCF einsteigt, dann mit der Strategie, ein Netz zu verknüpfen“, meint er. Auch bei einem ähnlichen Privatbahn-Projekt zwischen Prag und Ostrava sei ein SNCF-Einstieg möglich, die Franzosen würden eine Beteiligung also aus strategischen Gründen verfolgen.

Die Westbahn sei als neuer Konkurrent auch eine grosse Chance für die ÖBB, ist der Schweizer überzeugt. Bei einem „privaten Experiment“ in der Ostschweiz, wo die private Bahn allerdings bald pleite ging, habe sich für die SBB ein „kultureller Effekt“ gezeigt: Die Mitarbeiter hätten verstanden, dass sie nicht mehr in einem geschützten Sektor arbeiten. Dies habe zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und stärkerer Kundenorientierung geführt. „Der Wettbewerb bringt auch für die ÖBB eine Chance.“ Ein Qualitätswettbewerb könne neue Kunden locken, denn „auch eingefleischte Automobilisten können zu Bahnfahrern werden.“

Die Frage einer staatlichen Kapitalspritze für die ÖBB will Blumenthal im europäischen Vergleich eingebettet sehen: Im letzten Jahrzehnt hätten alle europäischen Bahnen staatliche Unterstützung zur Sanierung erhalten. Auch die in Österreich gerne als Vorbild gepriesene SBB habe gerade über 1,1 Mrd. Franken Staatsgeld zur Finanzierung ihrer Pensionskasse erhalten.