Das Stadtzürcher Quartier Wipkingen sorgt sich um die Zukunft seiner Stationshalterinnen

Im Bahnhof Wipkingen verkaufen vier Frauen an sechs Tagen pro Woche Billette, Abonnemente und Reisen, helfen und beraten. Nun ist ihre Existenz gefährdet, weil die SBB die Provision für Generalabonnemente massiv kürzen wollen.

 

Von Brigitte Hürlimann - NZZ Online

Die Wipkinger  sehen  die Existenz  des  Reisebüro  am  Bahnhof  in Zürich Wipkingen  ernsthaft  bedroht                                                                           Foto: Marcel Manhart

 

Der Bahnhof Wipkingen, mitten in Zürich gelegen, in einem lebendigen, bunt durchmischten Wohnquartier mit hoher Lebensqualität, hat eine wechselhafte Geschichte hinter sich – und eine ungewisse Zukunft vor sich. Entstanden in den 1930er Jahren, wurde er von den SBB 1972 zur unbedienten Station degradiert und fristete danach über zwanzig Jahre lang ein trostloses, verwahrlostes Dasein: Es war ein unschöner, ein öder und ein ziemlich unheimlicher Ort mitten im Quartier. Diesem Zustand setzten Quartierbewohner und -vereine in den 1990er Jahren ein Ende; nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der damaligen offenen Drogenszene am stillgelegten Bahnhof Letten. Die engagierten Wipkinger gründeten eine IG Bahnhof, die wenige Jahre später ein Bahnhofreisebüro eröffnete. Seither, also seit 1997, ist der Bahnhof Wipkingen wieder zu einem freundlichen, sauberen Ort geworden, den man gerne aufsucht. Doch nun sehen die Wipkinger die Existenz ihres Reisebüros ernsthaft bedroht.


Kündigungsbrief trifft ein
Ende Juni dieses Jahres erhielt Regula Fischer, die Geschäftsleiterin des Bahnhofreisebüros, höchst unerfreuliche Post von den SBB. Fischer und ihre drei Mitarbeiterinnen sind im Rahmen eines sogenannten Stationshaltermodells tätig: Sie beraten SBB-Kunden und verkaufen SBB-Leistungen, erhalten dafür pro Station eine jährliche Präsenzpauschale «im tiefen fünfstelligen Frankenbereich», wie es vonseiten der SBB heisst, sowie Provisionen pro verkauftem Billett und Abonnement. Bis heute entrichten die SBB ihren Stationshaltern (es gibt insgesamt vierzehn schweizweit, vier davon im Kanton Zürich) für jedes verkaufte Generalabonnement eine Provision von 9 Prozent. Das macht bei einem Erstklass-GA rund 460 Franken Provision, bei einem Zweitklass-GA rund 300 Franken. Neu, das heisst ab dem kommenden Jahr, wollen die SBB jedoch nur noch pauschal 50 Franken für jedes verkaufte GA bezahlen – was eine einschneidende Kürzung darstellt.

Regula Fischer vom Bahnhof Wipkingen sagt, der Verkauf von Generalabonnementen mache bei ihnen bis zu fünfzig Prozent des Gesamtumsatzes aus, der jährlich rund vier Millionen Franken betrage; die angekündigte Kürzung bedeutete deshalb wohl das Aus für das Reisebüro. «Dabei sind unsere Dienstleistungen doch gefragt, wie unser Umsatz klar zeigt. Wir haben Kundschaft aus der ganzen Stadt, nicht nur aus dem Quartier. Ältere wie auch jüngere Leute sind froh um die Beratung und um unsere Präsenz.» Die Frauen vom Bahnhofreisebüro, das heute als Aktiengesellschaft organisiert ist, kümmern sich auch um die öffentliche Toilette auf dem Bahnhofareal – weit und breit die einzige.

Doch die Wipkinger nehmen die schlechte Nachricht nicht einfach kampflos hin. Quartiervereinspräsident Beni Weder hat den SBB einen Brief geschrieben und darin festgehalten, dass man unbedingt einen bedienten Bahnhof wolle und nicht die verwahrlosten Zustände von früher. Weder erinnert daran, dass erst vor kurzem der Ingenieur und Investor Urs Räbsamen das Bahnhofsgebäude gekauft hat; mit der Zusicherung, das Bahnhofreisebüro dürfe bleiben, allenfalls würden sogar noch mehr Räumlichkeiten für Quartieraktivitäten zur Verfügung gestellt. Das Gebäude aus den 1930er Jahren wird von Räbsamen renoviert und aufgestockt. Dem gleichen Investor gehört das direkt nebenan liegende, historische Gebäude mit dem Restaurant «Nordbrücke», das sich unter neuer Pächterschaft zu einer charmant-nostalgischen Kaffeebar und zu einem wichtigen Quartiertreff gemausert hat. Das Restaurant und das Reisebüro, sagt Regula Fischer, seien als eine Einheit zu sehen und ergänzten sich gegenseitig.


Gewinn im Personenverkehr
SP-Kantonsrat Benedikt Gschwind, Präsident der Bahnhofreisebüro-Aktiengesellschaft, befürchtet ebenfalls, dass mit den neuen Konditionen die Existenz des Reisebüros gefährdet ist. Er weist jedoch darauf hin, dass die Verhandlungen mit den SBB noch im Gange seien; ein neuer Vertrag mit den Stationshaltern ist tatsächlich noch nicht eingetroffen. Die SBB bestätigen zwar die laufenden Verhandlungen, teilen aber auf Anfrage mit, man halte an der Reduktion der GA-Provisionen fest: «Uns ist bewusst, dass diese Senkung für die Stationshalter Einnahmeneinbussen zur Folge hat», heisst es in der schriftlichen Stellungnahme von SBB-Sprecherin Lea Meyer.

Laut Meyer geht es den SBB darum, jährlich eine Million Franken einzusparen. Vergangenes Jahr hätten die Stationshalter rund 7900 GA verkauft, wofür die SBB 1,4 Millionen Franken Provision bezahlt hätten. Davon habe der Verband des öffentlichen Verkehrs 400 000 Franken übernommen, 1 Million Franken seien bei den SBB als Verlust hängengeblieben. Die Bundesbahnen haben allerdings vergangenes Jahr aus dem Betrieb mit dem Personenverkehr einen Gewinn von knapp 293 Millionen Franken erwirtschaftet; im Jahr zuvor, 2009, waren es rund 280 Millionen Franken gewesen. Zudem setzen die SBB wieder auf mehr Präsenz in den Zügen und in den Bahnhöfen: mit eigenem Personal, was eine kostspielige Angelegenheit ist. Lea Meyer beteuert, man schätze das Modell mit den Stationshaltern und deren Präsenz. Doch auch bei ihnen müssten «wirtschaftliche Aspekte» berücksichtigt werden. Ein Ausbau des Stationshaltermodells sei derzeit nicht vorgesehen.

Im Quartier Wipkingen und in vielen anderen Schweizer Gemeinden mit Stationshaltern schüttelt man den Kopf über das Vorgehen der SBB. «Mit wenig Sparen macht man viel kaputt», sagt etwa Benedikt Gschwind. Und Regula Fischer erinnert an die vielen positiven Nebenaspekte, wenn die früher verwaisten Bahnhöfe durch Stationshalter wiederbelebt werden: «Wir geben den SBB ein Gesicht und eine Stimme.»