Der Rangierbahnhof, der auch eine Stadt sein könnte

Müssten 2500 Güterwagen nicht täglich ins Limmattal fahren, könnten dort weitere 17'000 Menschen stadtnah wohnen und arbeiten. So liessen sich Verkehrsströme eindämmen. Nur, wer im föderalistischen Staat soll so weit denken und handeln?

 

Von Paul Schneeberger - Neue Zürcher Zeitung vom 16. August 2012

Im SBB Rangierbahnhof Limmattal (RBL) bei Zürich                       Foto: Marcel Manhart

 

 

Wenn sich im Sommer die Abendröte über der Verkehrs-, Gewerbe- und Wohnlandschaft des Limmattals ausbreitet, lässt sich von einer Passerelle auf der Höhe von Spreitenbach das Ballett der Güterwagen verfolgen. Diesellokomotiven schaufeln Kompositionen, die eben angekommen sind, auf den sogenannten Ablaufberg, wo ein Rangierarbeiter mit einer mächtigen Eisenstange einzelne Wagen oder Gruppen von ihnen trennt. Darauf verteilen sich diese, getrieben durch die Neigung der künstlichen Erhebung, auf die Gleise, von denen aus sie als neu formierte Züge zum Nachtsprung ansetzen.

 

 

Die unmittelbaren Interessen

 

Jeden Tag werden hier 2500 Güterwagen «verarbeitet», wie das im Jargon heisst. Ausgelegt war die Anlage einst auf 5200 Wagen, wie in Publikationen zu ihrer Eröffnung im Jahr 1978 nachzulesen ist. Ihre Ausgestaltung und ihr Standort sind Kinder der 1950er Jahre, in denen man sich noch nicht vorstellen konnte, dass die Eisenbahn dereinst das Monopol im überregionalen Güterverkehr verlieren würde. Eigentlich hatten die SBB den aus dem Güterbahnhof Zürich herausgewachsenen Rangierbahnhof bei Schlieren realisieren wollen. Doch die fortschreitende Urbanisierung legte einen Standort vor den schon damals ausserhalb ihrer politischen Grenze gelegenen Toren der Stadt nahe. Inzwischen haben sich diese noch weiter hinaus verschoben. Der Rangierbahnhof Limmattal ist heute ebenfalls Teil der Stadt.

 

So verkehrsgünstig die Lage dieser nationalen Drehscheibe ist, so gehören die zu ihr führenden Schienen und Strassen zu den am stärksten be- und ausgelasteten Verkehrswegen der Schweiz. Trotzdem sollen die rund 100 Hektaren, auf denen sie sich von Dietikon im Kanton Zürich bis nach Killwangen im Kanton Aargau ausbreitet, nicht nur wichtigster Hub des Schienengüterverkehrs in der Schweiz bleiben. Ergänzend soll hier auch eines von zwei Gateways für den Containerverkehr ab den Nordseehäfen realisiert werden. 700 Meter lange Züge aus Antwerpen, Rotterdam und Hamburg sollen im Gateway enden. Die Planung sieht hier den Umlad von bis zu 600 Containern pro Tag auf Züge und Lastwagen zur Feinverteilung in der ganzen Schweiz vor. Das Limmattal soll so neu zur Destination von Zügen werden, die heute dezentral angesiedelte kleine Terminals anfahren. Und hierhin soll auch der erwartete Mehrverkehr kanalisiert werden.

 

So weit, so gut. Aber ist es optimal, diese Logistikanlage mit zentraler Verteilfunktion für die ganze Schweiz ohne Basel just hier anzusiedeln? An diesem Ort, der zwischen zwei Hügelzügen liegt, die von allen Formen des Verkehrs nur mit erhöhtem Aufwand zu passieren sind? Wo doch eine Faustregel besagt, dass der Bau von Verkehrswegen in Tunnels bis zu 10-mal teurer ist als auf der grünen Wiese? Die Antwort darauf ist eine Frage der Optik. Ja, sagt Dirk Bruckmann vom Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme an der ETH Zürich, der zuvor bei SBB Cargo an der Konzeption des künftigen Containerverkehrs mitgewirkt hat. Zentral für das Gateway sei seine direkte Anbindung an den Rangierbahnhof. Nur so lasse sich sicherstellen, dass 80 Prozent der Container bis zur letzten Meile auf der Bahn verbleiben.

 

Das bestehende Schienennetz vermöge die zusätzlich erwarteten Güterzugpaare ab Basel zu verkraften. Indem diese über Baden verkehrten, belasteten sie das Eisenbahn-Nadelöhr von Zürich Richtung Westen durch den Heitersberg nicht. Was die Strasse betrifft, kam eine Studie 2002 zum Schluss, dass der vom Gateway verursachte zusätzliche Verkehr «aufgrund der sehr hohen Vorbelastungen zu keinen spürbaren Änderungen» führe. In diesem Papier hatten die Kantone Zürich und Aargau die Plausibilität des Standortes abklären lassen. Als Alternative hatten sie dem Limmattal das noch weiter östlich und von der Nationalstrasse entfernte Zürcher Furttal gegenübergestellt, das in der Evaluation – was zu erwarten war – schlechter abschnitt.

 

Die beiden Kantone, auf deren Boden der Rangierbahnhof Limmattal liegt, erreichten in der Folge, was für sie kurzfristig zentral ist: Die SBB realisieren das Gateway mit acht Geleisen und zwei darübergestellten Ladebrücken auf ihrem eigenen Areal und beanspruchen dafür kaum zusätzliche Flächen. So weit die Schnittmenge der unmittelbaren Interessen, für deren Umsetzung noch dieses Jahr die Pläne aufgelegt werden sollen: Hier die auf Zentralisierung abzielende Güterbahn des Bundes, dort die betroffenen Kantone, welche die negativen Auswirkungen des Projekts auf ihr Territorium gering halten wollen. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung darüber, ob nicht nur das geplante Gateway, sondern auch der bestehende Rangierbahnhof (noch) am richtigen Ort sind, wurde nie geführt. Intervenierende Variablen, wie das rasante, hier von Zürich ausgehende Bevölkerungswachstum und die wegen immer weiter ausgreifender Pendlerströme explodierenden Infrastrukturkosten wurden nie berücksichtigt.

 

 

Der Faktor Energie

 

Eine kontroverse Diskussion fand nur regional statt, und sie beschränkte sich auf unmittelbar zu erwartende Auswirkungen des Gateways, auf den Lärm und die Belastung des lokalen Strassennetzes. Zentral aber wäre die Erörterung einer Wechselwirkung, deren Berücksichtigung sowohl in Bezug auf den weiteren Ausbau der Verkehrswege als auch auf den Energieverbrauch zu Optimierungen führen könnte: Sollen wirklich sämtliche von der Bahn transportierten Container aus den Nordseehäfen, die nicht für Basel bestimmt sind und dort umgeschlagen werden, in einem ersten Schritt durch den Aargau nach Zürich transportiert werden, zumal 40 Prozent davon von dort aus westwärts zurückverschoben werden? Dies, während umgekehrt über 60 000 Personen aus ebendiesem Aargau in andere Kantone pendeln? Die meisten davon nach Zürich, unter anderem, weil sie keine näher zu ihren Arbeitsplätzen gelegenen Wohnungen finden – eine Entwicklung, die sich als Folge der vom Zürchervolk angenommenen Kulturlandinitiative noch verstärken wird.

Wäre es nicht sinnvoller, hier eine grossräumigere Entflechtung der Funktionen Wohnen und Logistik anzustreben? Beides so anzusiedeln, dass sich die daraus entstehenden Transportdistanzen minimieren lassen? Würden diese Standortentscheide nach solch übergeordneten Überlegungen getroffen und würden sie nicht nur der Logik der Eisenbahn folgen, die darauf abzielt, den Lastwagen im kombinierten Verkehr möglichst bis ans Ziel aus dem Spiel zu halten, ergäben sich für die Planung des Gateways und die Weiterentwicklung des Rangierbahnhofs andere Perspektiven. Perspektiven, welche nicht nur die von Güterwagen, sondern auch von Pendlern zurückgelegten Distanzen und den damit verbundenen Energieverbrauch einzudämmen vermöchten.

 

Das Gateway wäre unter diesem Gesichtspunkt jenseits des Heitersbergs anzusiedeln, im Birrfeld, dort, wo sich die Hauptverkehrsachsen des Schienengüterverkehrs kreuzen und die Autobahn weniger belastet ist. Auf die nächsten Jahrzehnte hinaus wäre auch zu überlegen, wie der Rangierbahnhof Limmattal weiterzuentwickeln ist. Ob er sich verkleinern lässt, wenn der überdimensionierte und dort Stellplatz beanspruchende Wagenpark von SBB Cargo weiter reduziert wird. Und ob, auch unter dem Gesichtspunkt des Energieverbrauchs, im Schienengüterverkehr nicht zu stärker dezentralisierten Produktionskonzepten zurückzukehren bzw. an solchen festzuhalten wäre.

 

Das Gelände, über das sich der Rangierbahnhof von Dietikon bis Killwangen erstreckt, birgt ein stattliches Potenzial für Wohnen und Arbeiten. Zieht man die an der Dichte der Stadt Genf orientierten Annahmen zurate, die das Bundesamt für Raumentwicklung 2008 seinen Schätzungen des Potenzials damaliger Industriebrachen zugrunde gelegt hat, könnten hier stadtnah knapp 12 000 Personen wohnen und 8000 Arbeitsplätze untergebracht werden.

 

Nur, wer sollte solche übergeordneten Überlegungen in der föderalistischen Schweiz überhaupt anstellen, die auf eine Optimierung von Raumnutzung, Verkehrswegen und Energieverbrauch abzielen? Der Schlüssel läge bei den Kantonen, sagt Bernd Scholl, ETH-Professor für Raumentwicklung. Erwägungen und Überlegungen in diese Richtung müssten von ihnen aus kommen. Für Scholl sind das Limmattal als «nördliches Tor» von Zürich wie auch das Glatttal mit dem Flughafen Regionen von nationaler Bedeutung.

 

Weichenstellungen, die hier vorgenommen werden, haben weit über die betroffenen Kantone hinaus Auswirkungen. Überlegungen, wie das skizzierte Szenario, das auf eine Eindämmung zweier Verkehrsströme durch die Entflechtung von Pendler- und Güterverkehr zielen würde, bedürften einer ordnenden Hand, sagt Scholl. Innerhalb der Agglomerationen mag er Schritte in diese Richtung erkennen. Hier wirkt der Bund über die von ihm mitfinanzierten Programme zur koordinierten Entwicklung von Siedlung und Verkehr mit, indem er Richtlinien aufstellt, an die er sein Engagement bindet. Bei Infrastrukturen, die national ausstrahlen – dazu gehört auch der Flughafen Kloten –, sei das noch zu wenig der Fall, stellt Scholl fest. Für das Limmattal ist die Optik der beiden hier kooperierenden Kantone vorerst noch eine regionale: Ihr primäres Interesse richtet sich auf eine Stadtbahn als zusätzlichen Träger des regionalen Personenverkehrs.

 

 

Die zu kurzen Horizonte

 

Dass die auf einen mittleren bis längeren Zeithorizont abzielende Frage, ob und inwiefern der Rangierbahnhof oder Teile davon durch Umlagerung zu einer neuen Stadt werden könnten, bis anhin nicht gestellt, geschweige denn diskutiert wurde, ist für Scholl Zeichen eines Defizits in der Schweiz: Es fehle an Überlegungen, wie das Land über den Horizont von 2025 hinaus gestaltet werden soll. Anders als in den 1950er Jahren, in denen der Rangierbahnhof Limmattal auch zeitlich als grosser Wurf lanciert wurde, fehlen heute auf 30 bis 40 Jahre ausgerichtete Überlegungen. Zum einen wirkt nach Ansicht von Scholl der in jeder Hinsicht grosse Aufwand abschreckend, den die Verlegung oder Realisierung grosser baulicher Infrastrukturen mit sich bringt. Zum anderen, so Scholl, mangle es schlicht an Mechanismen, die solch langfristiges Denken ermöglichen bzw. auslösen. Im kleineren Rahmen gibt es durchaus Beispiele dafür. Etwa jenes des Talkessels von Schwyz, wo eine vom Kanton angestossene Testplanung der ETH Wege aufzeigt, wie sich hier, an einer Schlüsselstelle der Neat-Nordzufahrt, Siedlung und Verkehr trotz der ausgeprägten Knappheit des Raums unter einen Hut bringen lassen.

 

Und im Limmattal? Auf der Passerelle ist es dunkel geworden, über den Geleisen sind die Lichter angegangen. Überhört man das Quietschen der Güterwagen, lässt sich kaum mehr eruieren, ob der Blick noch über einen Rangierbahnhof schweift oder schon über den neuen Stadtteil eines zeitgemäss gedachten Zürich. Sicherheit besteht in Bezug auf die Fixpunkte am Horizont: rot blinkende Lichter. Sie markieren die Antenne auf dem Üetliberg, um den herum Zürich sich breit macht.