Die Zukunft der alten Gotthard-Linie ist ungewiss

Ende 2016 wird der NEAT-Basistunnel eröffnet. Was dann mit der alten Bahnlinie geschehen wird, kann das Bundesamt für Verkehr noch nicht sagen. Die Bergkantone Uri und Tessin betonen indes, dass sie auf die Bergstrecke angewiesen sind.

 

Von Carlo Schuler - Tages Woche

Chileli von Wassen   -   Gerne würden die Bahnreisenden diesen Ausblick auch ab 2017                                       noch geniessen                                           Foto: Marcel Manhart

 

 

Die Gotthardbergstrecke zwischen Erstfeld und Biasca: Eine Ikone des Bahnbaus und der Ingenieurkunst. In rund 20 Minuten überwindet ein Güterzug mit seiner schweren Last 700 Höhenmeter, was mehr als der doppelten Höhe des Eiffelturmes entspricht. Vor allem bei Wassen auf der Nordseite und in der Biaschina auf der Südseite wirken die Züge in der Landschaft, als seien sie Teil einer Modelleisenbahnanlage. Die Bergstrecke ist mit ihren Kehrtunnels, dem 15 Kilometer langen Gotthardtunnel und dem legendären Chileli von Wassen längst auch zu einem Symbol für die SBB schlechthin geworden.

 

Ende 2016 soll der NEAT-Basistunnel eröffnet werden. Was geschieht dann mit der 90 Kilometer langen Bergstrecke? 65 Tunnels und Galerien sowie 223 Brücken und Durchlässe zählt der Abschnitt. Der Unterhalt ist entsprechend teuer. Gemäss SBB-Pressesprecherin Lea Meyer betragen die heutigen Substanzerhaltungskosten für die Bergstrecke rund 50 bis 55 Millionen Franken pro Jahr. Mit der zukünftig tieferen Belastung und einer Vereinfachung der Bahnanlagen könnten diese Kosten aber stark reduziert werden.

 

 

Für Uri und Tessin ist die Linie sehr wichtig

 

«Die zukünftige Bedienung der Gotthard-Bergstrecke ist für den Urner Regierungsrat ein prioritäres Thema», sagt der Urner Volkswirtschaftsdirektor Urban Camenzind. Und Riccardo De Gottardi vom Dipartimento del territorio des Kantons Tessin doppelt nach: «Die Bergstrecke wird für den Kanton Tessin weiterhin sehr wichtig bleiben. Vor allem aus touristischen Gründen ist die Linie für uns unentbehrlich.» Die Postautolinien von Nufenen, Gotthard, Lukmanier, Furka, Grimsel und Susten sowie die Matterhorn-Gotthardbahn seien auf die Bergstrecke angewiesen. Für die beiden direkt betroffenen Kantone steht fest, dass die Strecke unbedingt erhalten werden muss. Gemäss Daniel Bach, Leiter externe Kommunikation der SBB, gehen die Verantwortlichen aufgrund des derzeitigen Planungsstand davon aus, dass auf der Bergstrecke dereinst in beide Richtungen pro Stunde je ein Zug verkehren wird.

 

 

Verschiedene Varianten werden geprüft

 

Bloss: Entschieden ist noch gar nichts. Langfristig seien noch alle Möglichkeiten offen, sagt Florence Pictet, Pressesprecherin des Bundesamtes für Verkehr. Es gebe die Optionen «Betrieb von keinem Geleise», «von einem Geleise» und «von zwei Geleisen»: «Zur Zeit werden verschiedene Varianten und Fragen geprüft; konkrete Konzepte gibt es nicht. Wird die gesamte Infrastruktur zurückgebaut, müsste die Erschliessung über den Berg durch einen Busverkehr erfolgen.»

 

Entscheide seien aber dennoch so schnell wie möglich zu erwarten, damit der Betreiber der Strecke die allenfalls nötigen Massnahmen treffen könne. «Der definitive Entscheid dürfte schätzungsweise gegen Ende 2013 fallen.» Im Moment sei eine Arbeitsgruppe bestehend aus Vertretern der SBB, der betroffenen Kantone und des Bundesamtes für Verkehr daran, ein mögliches Bahnangebot für den Personenverkehr auf der Bergstrecke für 2017 festzulegen.

 

Auch ein teilweiser Rückbau ist möglich

 

Bei den SBB tönt es ähnlich. Der SBB-Medienverantwortliche Daniel Bach erklärt: «Die Bergstrecke ist eine wichtige Ausweichroute bei Störungen oder Sperrungen des Basistunnels. Ob sie in der heutigen Form bestehen bleibt oder ob einzelne Teile aus Kostengründen zurückgebaut werden, ist offen.»

 

«Zurückbauen» könne auf verschiedene Art interpretiert werden, meint Riccardo De Gottardi. Für den Kanton Tessin sei wichtig, dass auf der Bergstrecke weiterhin ein qualitativ hochstehendes Angebot mit mindestens einem Zug pro Stunde zur Verfügung stehe. «Wenn dies mit einer schlankeren Infrastruktur vereinbar ist, dann stört uns das nicht weiter.»

 

Im Tessin gibt man sich jedenfalls optimistisch: Die SBB, der Bund und die betroffenen Kantone würden im Moment auch die Möglichkeit prüfen, auf der Bergstrecke neues Rollmaterial einzusetzen. Zudem mache man sich im Tessin auch Gedanken darüber, ob eventuell einzelne stillgelegte Stationen wie Ambri-Piotta oder Lavorgo wieder in Betrieb genommen werden könnten.

 

 

Möglicherweise wird die Linie dereinst als Ausweichroute benötigt

 

Es ist denkbar, dass die Bergstrecke im Zusammenhang mit der Sanierung des Gotthard-Strassentunnels eine wichtige Rolle spielen wird. Zwar hat der Bundesrat Ende Juni entschieden, den Strassentunnel erst nach dem Bau einer zweiten Röhre zu sanieren. Falls das Parlament und das Stimmvolk den Bau einer zweiten Strassenröhre aber ablehnen, wird der Autoverlad durch den neuen NEAT-Basistunnel wieder zu einem Thema. In diesem Falle ist ein Szenario denkbar, wonach die Bergstrecke aus Kapazitätsgründen die Funktion einer Ausweichroute erfüllen könnte. Je nach Vorgehensweise bei der Schliessung des Strassentunnels würde die Bergstrecke dann noch während zweieinhalb bis sieben Jahren diese Aufgabe übernehmen.

 

 

Einzigartig für den Bahnbau in den Alpen

 

Zwischen 2007 und 2010 wurden von den Kantonen Uri und Tessin und dem Bundesamt für Kultur erste Vorarbeiten für eine mögliche Kandidatur der Gotthard-Verkehrswege als UNESCO-Weltkulturerbe in Angriff genommen. Eine Kandidatur könne aber erst dann konkret diskutiert werden, wenn die Zukunft der Bergstrecke verbindlich geklärt sei, gibt Oliver Martin vom Bundesamt für Kultur zu bedenken.

 

ICOMOS Schweiz, die Vereinigung der Fachleute für Denkmäler und historische Stätten, wird im Herbst 2013 ein Symposium zur SBB-Bergstrecke und den historischen Verkehrswegen über den Gotthard durchführen. Für Eduard Müller, Urner Denkmalpfleger und Präsident von ICOMOS Schweiz, ist die Gotthard-Bergstrecke «Ausdruck eines imposanten politischen Willens.» Wenn man die damaligen finanziellen und technischen Möglichkeiten in Betracht ziehe, so könne man heute über dieses Werk und den Mut ihrer Erbauer nur staunen. Die Tatsache, dass die Strecke von 1882 bis heute den Bedürfnissen zu genügen vermochte, zeuge von der Weitsicht der damaligen Eisenbahnpioniere. Nicht ausgeklammert werden dürften aber auch die sozialen Aspekte: Der Bau sei unter oftmals äusserst schlimmen sozialen Bedingungen zustande gekommen. Für den Urner Denkmalpfleger steht fest: «Sollte die Strecke dereinst aus politischen Gründen nicht ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen werden können, so täte dies der Bedeutung dieses Werkes keinen Abbruch. Die SBB-Bergstrecke bleibt so oder so ein einzigartiger Zeuge des Bahnbaus in den Alpen.»